Abbrüche und Aufbrüche wahrnehmen, einordnen und gestalten

Kirch­li­che Bil­dungs­ar­beit in Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­sen oder War­um die Kir­che Unge­wiss­heit leh­ren muss

Am 20.11.2025 hat­ten der Fach­be­reich Reli­gi­ons­un­ter­richt und Schu­le und der Fach­be­reich Ele­men­tar­päd­ago­gik der EKM zu einer gemein­sa­men Tagung in das Feli­ci­tas-von-Sel­me­nitz-Haus in Hal­le ein­ge­la­den.
Gemein­sam mit Erzie­he­rin­nen, Gemein­de­päd­ago­gin­nen, kirch­li­chen und staat­li­chen Reli­gi­ons­lehr­kräf­ten sowie Stu­die­ren­den der Mar­tin-Luther-Uni­ver­si­tät Hal­le soll­ten bis­he­ri­ge Ver­än­de­rungs­pro­zes­se in der kirch­li­chen Bil­dungs­ar­beit reflek­tiert und Zukunfts­op­tio­nen aus­ge­lo­tet werden.

Fast 50 Teil­neh­men­de waren der Ein­la­dung gefolgt. Mit einem visua­li­sier­ten Rück­blick auf die Arbeit des Päd­ago­gisch-Theo­lo­gi­schen Insti­tuts an den Stand­or­ten Neu­die­ten­dorf und Drü­beck wur­den berufs­bio­gra­fi­sche Bezü­ge deut­lich. Kirch­li­che Bil­dungs­ar­beit in Thü­rin­gen und Sach­sen-Anhalt war, ist und wird ohne die Men­schen in den Regio­nen nicht denk­bar sein.

Im Zen­trum der Ver­an­stal­tung stan­den Über­le­gun­gen und Impul­se von Prof. Dr. Micha­el Doms­gen, Uni­ver­si­tät Hal­le, die im Ple­num und in berufs­über­grei­fen­den Grup­pen dis­ku­tiert wurden.

Hier ein Mit­schnitt und die Zusam­men­fas­sung sei­nes Vortrags.

Zur Ver­tie­fung: „Erneu­ert euer Den­ken!“ Auf der Suche nach Trans­for­ma­ti­ons­kom­pe­tenz: Stu­di­en­tag an der Theo­lo­gi­schen Fakul­tät, 21. Janu­ar 2026

Im Angesicht des Verlusts: Warum die Kirche Ungewissheit lehren muss

Der Theo­lo­ge und Reli­gi­ons­päd­ago­ge Dr. Micha­el Doms­gen stell­te einen tief­grei­fen­den „Ver­lust” des Fort­schritts­nar­ra­tivs in Gesell­schaft und Kir­che fest. Inmit­ten mas­si­ver glo­ba­ler und kirch­li­cher Her­aus­for­de­run­gen – von Kli­ma­wan­del über Demo­kra­tie­ver­lust bis hin zum Rück­gang der Kir­chen­mit­glied­schaft – feh­le eine „glaub­haf­te Erzäh­lung, wie es mit der Zukunft wei­ter­ge­hen kann.”

Sei­ne zen­tra­le These:

Die Angst vor Ver­lust domi­niert die Hoff­nung auf Fort­schritt. Die­se Kon­stel­la­ti­on sei aber gera­de dazu geeig­net, die „Grund­per­spek­ti­ven reli­giö­ser Bil­dung” neu zu beleben.

Zukunftskompetenz statt Vorhersage

Doms­gen beton­te, dass Bil­dung in unsi­che­ren Zei­ten nicht dar­auf abzie­len dür­fe, bes­se­re Vor­her­sa­gen zu tref­fen, son­dern dar­auf, den „Umgang mit Unge­wiss­heit zu schu­len.” Er for­der­te die Ent­wick­lung einer soge­nann­ten „Futures Liter­acy” (Zukunfts­kom­pe­tenz). Dies bedeu­te, zu ler­nen, „wie man zukünf­tig denkt,” anstatt eine bestimm­te Zukunft zu lernen.

Dafür sei­en fünf Schlüs­sel­kom­pe­ten­zen nötig, darunter:

Kri­ti­sches Den­ken, um eige­ne Annah­men zu hin­ter­fra­gen.
Das Aus­hal­ten von Ambi­gui­tät (Umgang mit Unsi­cher­heit).
Krea­ti­vi­tät und Impro­vi­sa­ti­ons­fä­hig­keit.
Die Erfah­rung von Selbst­wirk­sam­keit.
Per­spek­ti­ven­wech­sel und Empathie.

Gottesperspektive als Zuversichtsargument

Die christ­li­che Tra­di­ti­on bie­te dafür eine eige­ne „Kri­sen­spra­che und Zuver­sichts­ar­gu­men­te.” Anstatt die Bedräng­nis­se zu ver­schwei­gen, wür­den bibli­sche Tex­te sie „unver­hüllt wahr­neh­men” (Apo­ka­lyp­tik). Das zen­tra­le bibli­sche Men­schen­bild sei, dass „Umkehr und Umden­ken mög­lich sind.” (Mk 1,15) Dies ermög­li­che es Men­schen, an jeder Stel­le ihres Lebens „neu anzufangen.”

Doms­gen über­setz­te die Got­tes­di­men­si­on für eine säku­la­re Welt: Gott sei ein wich­ti­ges Wort „für unser Nicht­wis­sen und für das, wor­über wir nicht ver­fü­gen.” Die Geschich­ten von Jesus Chris­tus erzähl­ten, wie man „mög­lichst klug und geschickt mit die­sem Nicht­wis­sen mit Gott umge­hen” könne.

Bildung als Transformation

Päd­ago­gin­nen und Päd­ago­gen ver­stün­den christ­lich moti­vier­tes Leh­ren und Ler­nen als Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se. Aus­ge­löst durch Kri­sen­er­fah­run­gen, füh­re die­ser Pro­zess zu einem „Anders Wer­den und Andersdenken.”

Solch ein Ziel der reli­giö­sen Trans­for­ma­ti­on müs­se klar benannt werden:

ein Zuwachs an „Frei­heit und Sinn­per­spek­ti­ven” sowie an „Huma­ni­tät und Solidarität.”

Für die­se päd­ago­gi­sche Arbeit nutz­te Doms­gen die Meta­pher des Nar­thex (des Vor­raums byzan­ti­ni­scher Kir­chen): Reli­giö­se Bil­dung sei ein „Über­gangs­raum”, der „nicht ver­ein­nahmt, son­dern offen hält.” Sie sei eine „Ein­la­dung zum Fra­gen, nicht eine Ein­wei­sung in fer­ti­ge Gewissheiten.”

Kirche muss „provisorisch leben”

Im Blick auf die Kir­che warn­te Doms­gen vor der „Ver­rin­ge­rung der Hand­lungs­mög­lich­kei­ten,” die zur Erstar­rung füh­re. Er zitier­te Mar­kus 1,15 als Kern­bot­schaft: „Denkt um und ver­traut der Frohbotschaft.”

Gewinn an Menschlichkeit

Die Kon­se­quenz für die Insti­tu­ti­on sei klar: „Raus aus der Selbst­be­spie­ge­lung hin­ein in die Begeg­nung mit Men­schen.” Die größ­te Lern­auf­ga­be für die Gegen­wart sei es, das Pro­vi­so­ri­sche der mensch­li­chen Exis­tenz nicht als Man­gel, son­dern als „Gewinn an Mensch­lich­keit” zu erken­nen und zu erleben.

Schluss­end­lich gel­te das gro­ße Evangelium:

Men­schen kön­nen „immer wie­der umden­ken und neu anfangen.”